Ernährung: Finger weg von unseren Tellern

Unsere Ahnen nahmen Nahrung zu sich, um zu überleben. Mittlerweile ist das Essen mehr als nur ein Mittel zum Zweck – es gleicht einem religiösen Kult. Vegetarier essen nach anderen Regeln als Ovo-Lacto-Vegetarier, Rohköstler suchen ihr Essen nach anderen Gesichtspunkten aus als Veganer, und Pescarier verzichten zwar auf Fleisch, nicht aber auf Fisch. Die Anhänger jeder Richtung halten ihre für die gesündeste, für jene, die sie am jüngsten und vitalsten hält. Da ist es schwer, den Überblick darüber zu behalten, was wirklich gesund ist und was nicht. Sollen Kohlenhydrate aus dem Speiseplan gestrichen werden, oder sind sie essenziell für die Verdauung? Sollen sie stattdessen durch tierische Proteine ersetzt werden, oder wäre ein Verzicht auf Fleisch nicht doch besser? Sind vitaminreiche Früchte gesund, oder ist der hohe Fruchtzuckergehalt eher schädlich?

Der Staat versucht, mit Empfehlungen und Präventionsmassnahmen Ordnung zu schaffen. Aber er stiftet nur noch mehr Verwirrung. Zu viel Fleisch esse der Schweizer[1], behauptete jüngst das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen. Dabei müsste der Konsument ja eigentlich durch frühere Studien längst wissen, dass rotes Fleisch und mehr noch Wurstwaren bei regelmässigem Konsum zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Diabetes führen können. Der Bund hat aber auch lobende Worte übrig, denn der Schweizer Proteinverzehr liege bei den empfohlenen 10 bis 20 Prozent der täglichen Energiezufuhr. Das Haar in der Suppe: Davon sei zu viel tierischen Ursprungs, was zwar ernährungstechnisch hochwertiger als pflanzliches Eiweiss[2] sei; die Produktion stelle aber eine grössere ökologische Belastung dar. Weniger soll es auch an Fetten und Kohlenhydraten sein. Und Zucker? Nicht nur der normale Haushaltszucker soll seltener zum Einsatz kommen. Auch den Konsum von Fruchtzucker will der Staat drosseln. Achtung ist dabei geboten, dass die empfohlene Dosis an Früchten – gemäss der Ernährungspyramide zwei Portionen am Tag – nicht unterschritten wird. Schwierig, hier den Überblick zu behalten.

Seinen Aktionismus begründet der Bund mit Zahlen, die in der Tat besorgniserregend sind: 43,4 Prozent der Menschen in der Schweiz sind wegen des übermässigen Fett- und Zuckerkonsums übergewichtig oder gar adipös – Tendenz zunehmend. Die Prävalenz von Adipositas hat sich von 5,4 Prozent 1992 auf über 10 Prozent 2012 verdoppelt. Diese Wachstumsrate zählt mit zu den höchsten im internationalen Vergleich. Um die Fettleibigkeit zu reduzieren, haben einzelne Staaten bereits steuerpolitische Massnahmen getroffen: Frankreich besteuert gezuckerte Lebensmittel, Dänemark führte 2011, Mexiko 2013 eine Fettsteuer ein, und Grossbritannien überlegt, eine Abgabe auf fettiges Essen à la «fish and chips» zu erheben.

Es ist wünschenswert,
dass weniger Chemie
in der Lebensmittelindustrie
eingesetzt wird.
Verbote bringen aber
nur Stillstand.

Die Debatte hat auch die Schweiz erreicht. Mehrere Westschweizer Kantone fordern eine Zuckersteuer[3]. Die Erhebung von Steuern auf Süsses würde aber zu einem Konflikt zwischen Lenkungszielen und fiskalischen Zielen führen. Will der Staat einen niedrigeren Zuckerkonsum oder einen höheren, der ihm die Kassen füllen würde? Ohne Rückverteilung ist eine Abgabe aus Konsumentensicht nicht zu befürworten. Aber auch mit einer Rückverteilung soll der Staat nicht lenken, was auf Schweizer Tellern landet und was aus Kühlschränken verbannt wird. Die Reduktion von Zucker und Fett liegt vielmehr im Interesse jedes Einzelnen, schon allein der eigenen Gesundheit wegen.

Dass das nicht immer einfach ist, zeigen die endlosen Listen an Inhaltsstoffen auf den Lebensmittelverpackungen. Zucker und ungesunde Fette werden auch dort beigemengt, wo man es nicht erwarten würde. Eine Möglichkeit, versteckte Kalorien aufzudecken, ist die auffällige Etikettierung durch ein rot-gelb-grünes Ampelsystem: Gesunde Lebensmittel werden dabei grün gekennzeichnet, gelb jene, die in Massen zu geniessen sind, und sehr ungesunde Esswaren rot. Damit würden Produzenten und Händler Transparenz und Klarheit über die Inhaltsstoffe schaffen, und die Selbstverantwortung des Konsumenten würde gestärkt: Er hätte mehr Kontrolle darüber, was in seinem Magen landet.

Wenn es das Ziel des Staates ist, eine gesunde Ernährung zu fördern, sollte er sich offen zeigen für neue Technologien, die oft argwöhnisch betrachtet werden. Zu Unrecht. Für die Gegner von Glyphosat oder Gentechnik ist es ein Leichtes, Abneigung oder gar ein Gefühl von Angst zu erzeugen. Ein Verbot von Innovationen bringt indes nichts ausser Stillstand. Wären Entwicklungen in der Nahrungsmittelindustrie jedes Mal unterbunden worden, die Felder würden noch mit Ochsen bestellt. Da sich die Rahmenbedingungen klimatisch und sozioökonomisch laufend ändern, muss darauf mit der entsprechenden Technologie reagiert werden können. So stellt beispielsweise der Klimawandel immer neue Herausforderungen: Veränderte Niederschlagsregime und steigende Temperaturen lassen Sorten, die früher bei uns gewachsen sind, heute nicht mehr gedeihen. Mit neuen Züchtungen kann das kompensiert werden. Doch verbietet Vater Staat gentechnisch veränderte Organismen von vornherein, erschwert dies die Gentechnik-Forschung – und Wissenschafter sehen keine Perspektive in diesem Forschungszweig.

Ähnliches geschieht derzeit mit dem Unkrautvertilger Glyphosat[4], dem Stoff, den Umweltschützer in den letzten Jahren am eifrigsten verteufelt haben. Jüngst schlugen die Behörden in Deutschland Alarm, als Rückstände von Glyphosat im Bier gefunden wurden. In der Schweiz gab es einen Aufschrei, als das Herbizid im Rahmen einer Untersuchung in 40 Prozent der Urinproben nachgewiesen werden konnte. Dabei hat die europäische Chemikalienagentur erst Mitte März mitgeteilt, dass die Angst vor Glyphosat unbegründet[5] sei: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse reichten nicht aus, um das Herbizid als krebserregend zu klassifizieren. Damit bestätigte sie frühere Studien der Weltgesundheitsorganisation und der EU. Trotz der Entwarnung wird der Ruf nach einem staatlichen Verbot in der Schweiz und der EU immer lauter. Es wird sich weisen, ob sich die Behörden dem öffentlichen Druck beugen. Spätestens dann, wenn die EU-Zulassung für das Mittel Ende dieses Jahres ausläuft[6] und die Kommission in Brüssel über eine Verlängerung oder ein Verbot entscheiden muss.

Es ist wünschenswert, dass die Lebensmittelindustrie weniger Chemie einsetzt. Eine Verteufelung von Glyphosat bringt aber wenig, zumal es derzeit keine praktikable und ökologisch wie wirtschaftlich verträgliche Alternative gibt. Denkbar wäre eine mechanische Unkrautbekämpfung durch Jät-Roboter. Das System steckt aber noch in den Kinderschuhen, die Kosten sind entsprechend hoch. Eine weitere Möglichkeit ist der Anbau von schädlingsresistenten Sorten, die weniger gespritzt werden müssen. Solange die Mehrheit der Konsumenten aber preiswertere Nahrungsmittel den teureren Biovarianten vorzieht, bleibt der Preis die ausschlaggebende Grösse – erst recht im globalen Markt.

Vor allem Landwirte wissen die Emotionen beim Thema Ernährung geschickt zu bedienen[7] und für ihre Eigeninteressen zu instrumentalisieren: das Bauerntum als ein Stück Schweizer Tradition, das es zu bewahren gilt. Doch anstatt sich am Markt mit guten Produkten zu profilieren, wollen sie ihre Einkünfte mit einer Initiative für Ernährungssicherheit festigen. Denn die Volksinitiative fordert vom Bund, die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln aus einheimischer Produktion zu stärken. Diese Initiative hat das Parlament in der Frühlingssession verworfen, zugunsten eines Gegenvorschlags[8], der anstelle der Ernährungssicherheit ein umfassendes Gesamtkonzept in die Verfassung aufnehmen will. Die Absicht der parlamentarischen Mehrheit war es, damit die Anliegen dreier Initiativen – die Ernährungssicherheitsinitiative des Bauernverbands, die Ernährungssouveränitätsinitiative der Bauerngewerkschaft Uniterre und die Fair-Food-Initiative der Grünen – gleichzeitig zu bedienen. Der Gegenvorschlag auf Verfassungsstufe lässt aber mit der gewählten Formulierung viel zu viel Interpretationsspielraum offen. Die ursprünglichen Begehren der Bauern werden auch im Gegenvorschlag aufgenommen. Solches sollte man nicht in die Verfassung schreiben.

Wenn es um die Ernährung geht, ist der Staat gut beraten, seine Finger von unseren Tellern zu lassen. Regulatorische Auswüchse bringen weder gesundheitliche noch finanzielle Vorteile. Die Bürger sollen eigenverantwortlich entscheiden dürfen, was sie kaufen und essen. Die Bevormundung durch den Staat ist fehl am Platz. Sein Intervenieren behindert Innovationen und neue Technologien, die es braucht, um unter den veränderten klimatischen und sozioökonomischen Umständen auch weiterhin gesundes Essen zu produzieren. Und das sowohl für Fleischliebhaber als auch für Vegetarier und Veganer.

Quelle:

www.nzz.ch

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