Gesunde Ernährung: Die Zuckerdebatte muss breiter geführt werden

Die Diskussion rund um die Schädlichkeit des Zuckers in Getränken und Joghurts nimmt Fahrt auf. Sie gewinnt auch zusehends die Aufmerksamkeit zahlreicher Verbände, die ihre Bedenken anmelden. Das ist verständlich, denn substanzielle wirtschaftliche Interessen sind damit verbunden. In einer liberalen Gesellschaft ist zum Glück letztlich jeder und jede für die Ernährung selber zuständig. Dass der Staat nun dennoch einzugreifen droht, muss schon sehr gewichtige Gründe haben. Sind diese gerechtfertigt?

Zwei Fakten stehen im Vordergrund der erneut aufgeflammten Zuckerdebatte: die grosse Anzahl von Diabetikern und übergewichtigen Personen. Über 400 000 Personen leiden an Diabetes, und eine grosse, nicht genau bekannte Anzahl von Personen befindet sich in einem sogenannten «prädiabetischen» Zustand, d. h., bei ihnen kann die Krankheit noch ausbrechen. Die Tendenz ist steigend. Da der unbehandelte Diabetes eine Reihe besonders schwerwiegender Folgekrankheiten haben kann, ist er in Bezug auf die Volksgesundheit besonders wichtig. Übergewichtige Personen erliegen erwiesenermassen besonders häufig dieser Krankheit. Da auch Kinder und Jugendliche gefährdet sind, hat die Eindämmung dieser Entwicklung grosse gesellschaftliche Bedeutung. Ist aber der Zucker wirklich allein dafür verantwortlich?

Schon in vergangenen Jahrhunderten, als sich der Zuckerkonsum in Europa auszubreiten begann, gab es viele mahnende Stimmen, die vor dem Zucker eindringlich warnten. Der berühmte französische Gastrosoph Jean Anthelme Brillat-Savarin beschrieb zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dass dickleibige Personen viele Süssigkeiten, Brot und Kartoffeln verspeisten. Damit hatte er – ohne es zu wissen – auf den wichtigen Sachverhalt hingewiesen, dass es offensichtlich nicht nur um den Tafelzucker geht. Es geht um die Kohlenhydrate insgesamt, also die komplexen Formen des Zuckers, die in diesen Speisen enthalten sind.

Die Ernährungswissenschaften haben stürmische Zeiten erlebt. Ein besonders einschneidendes Ereignis war es, als die WHO im letzten Jahrhundert die Fette verunglimpfte und damit dem exzessiven Konsum von Kohlenhydraten Vorschub leistete.

Die erwähnten Nahrungsmittel enthalten wie der Tafelzucker alle den einen Stoff, nämlich die Glukose. Die Nahrungsmittel, die Brillat-Savarin auflistete, sowie die Teigwaren und der Reis, die später unseren Speisezettel eroberten, enthalten sehr viel Glukose. Warum sollen aber diese Nahrungsmittel an der Entstehung von Übergewicht und Diabetes beteiligt sein, wo doch jahrzehntelang dem exzessiven Fettkonsum die Schuld an der Fettleibigkeit zugeschrieben wurde? Die Erklärung hierfür hat nichts mit einer Diät oder einer neuen Ernährungslehre zu tun, sondern beruht auf biochemischen Prozessen, die unumstritten sind. Die genannten Speisen werden im Magen-Darm-Trakt in ihre chemischen Komponenten aufgespalten. Hierbei wird viel Glukose freigesetzt, die in den Kreislauf gelangt und in der Bauchspeicheldrüse das Hormon Insulin freisetzt. Dieses Hormon hat es in sich. Es ist zuständig für die Aufnahme der Glukose in die Körperzellen, aber es fördert auch den Aufbau der Fettspeicher und hemmt deren Abbau. Zu viel Glukose ist über diesen Mechanismus kausal mit der Entstehung der Fettleibigkeit verbunden.

Die Ernährungswissenschaften haben stürmische Zeiten erlebt. Ein besonders einschneidendes Ereignis war es, als die WHO im letzten Jahrhundert die Fette verunglimpfte und damit dem exzessiven Konsum von Kohlenhydraten Vorschub leistete. Dies geschah, obwohl der amerikanische Forscher Pete Ahrens bereits in den 1950er Jahren beim Menschen nachweisen konnte, dass Kohlenhydrate den Aufbau von Fetten, den Triglyzeriden, fördern. Er warnte vor einer weltweiten Epidemie der Fettleibigkeit, sollte sich die WHO dazu entschliessen, die Fette an den Pranger zu stellen. Letztgenanntes passierte trotz seiner auf wissenschaftlichen Daten basierenden Warnung – und die Auswirkungen scheinen ihm recht zu geben.

Wer die Fettleibigkeit und den Diabetes bekämpfen will, muss also nicht nur den Zucker, sondern die Kohlenhydrate insgesamt berücksichtigen. Niemand will aber die Pasta, die Kartoffeln oder den Reis verunglimpfen. Schliesslich gibt es viele Personen, die diese Nahrungsmittel regelmässig konsumieren, ohne übergewichtig zu werden oder an Diabetes zu erkranken. Wie ist dies zu erklären? Studien haben gezeigt, dass wir die Glukose bei identischer Ernährung ganz unterschiedlich verarbeiten. Dieser schicksalhafte Sachverhalt ist vermutlich genetisch bedingt. Das macht es schwierig, genaue individuelle Empfehlungen abzugeben. Die Menge Kohlenhydrate auf dem Speisezettel zu beschränken, ist aber klug und richtig. Die Absicht, den Zucker in den Getränken und den Joghurts zu reduzieren, geht in diese Richtung. Aber sie genügt nicht. Eine breitere Debatte über diesen wichtigen Aspekt der Ernährung tut not. Um in der Bevölkerung die Akzeptanz einschneidender Massnahmen wie der Besteuerung des Zuckers zu erhöhen, ist es zielführend, schon in der Schule, aber auch in den Medien vermehrt auf diese Zusammenhänge hinzuweisen.

Quelle:

www.nzz.ch

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