Keimbahntherapie: Das biomedizinische Wagnis

© dpa Patientendämmerung: Werde künftig auch Generationen therapiert?

Die Wucht, die der technische Fortschritt in der Medizin entfaltet, wird uns im Alltag selten bewusst. Früher hat man in scheinbar aussichtslosen Fällen auf medizinische Wunder oder den lieben Gott gehofft. Der Arzt, der sein Möglichstes tat, war der Inbegriff einer weltlichen Macht über das Leben selbst, aber er war moralisch nicht in der Verantwortung. Leid und Schicksal waren ständige Begleiter des Menschen, Gesundheit, aufs Ganze gesehen, ein Lotteriespiel.

Joachim Müller-JungAutor: Joachim Müller-Jung, Redakteur im Feuilleton, zuständig für das Ressort „Natur und Wissenschaft“. Folgen: [1]

Heute bringt (auch) die Medizin in immer kürzeren Abständen technisch-wissenschaftliche Erlösungsversprechen hervor - und bürdet damit der Zivilisation eine Verantwortung auf, die ein einzelner Arzt gar nicht mehr zu übernehmen imstande ist. Medizintechnische Innovationen sind heute fast ausnahmslos Teil einer großen biomedizinischen Utopie.

Mitochondrien, Kraftwerke des Körpers

Wie weittragend diese Versprechen sein können, hat sich in diesem Jahr in der britischen Debatte über neue Möglichkeiten in der Reproduktionsmedizin gezeigt. Eltern mit schweren Gendefekten in den Mitochondrien, so die Verheißung, könnten wohl bald gesunde Kinder bekommen. Mitochondrien sind als kleine Kraftwerke lebensnotwendig in jeder unserer Zellen, und sie besitzen selbst einen kleinen Satz von Erbanlagen jenseits des Zellkerns. Menschen ohne intakte Mitochondrien-Gene tragen eine schwere Bürde. Viele Kinder, die die Gendefekte erben - eins von etwa sechstausend Neugeborenen -, leiden extrem, einige sterben früh.

Großbritanniens Parlament hat als erste Volksvertretung der Welt die Entscheidung getroffen, dem biomedizinischen Fortschritt den Weg zu ebnen und dabei auch ein moralisches Wagnis einzugehen. Mitochondrien-Leiden lassen sich (so weit geht zumindest das Wissen aus den vorklinischen Experimenten mit Tieren) mit reproduktionsmedizinischen Verfahren verhindern, bei denen Kinder Gene von drei unterschiedlichen Eltern erhalten. Grob gesagt geht es bei beiden Verfahren darum, dass das Gros des Erbmaterials der biologischen Eltern, das die Persönlichkeit wesentlich mitprägt und im Zellkern sitzt, in die mit gesunden Mitochondrien gefüllte Eizelle einer (fremden) Eizellspenderin übertragen wird.

Gleichgültig, wie stark dieses Zehntelprozent an Genmaterial von einer fremden Frau den Menschen prägt, es wird vom Moment des Eingriffs an zu diesem „neuen“ Menschen gehören - und auch zu dessen eigenen Nachkommen. So energisch auch Versuche unternommen wurden, von Patientengruppen bis zum britischen Gesundheitsministerium, um den genverändernden Charakter des Eingriffs zugunsten der kranken Menschen zu bagatellisieren, es bleibt ein Eingriff in die Keimbahn des Menschen.

Sicherheit der Eltern-Therapie unklar

Noch ist nicht klar, wie sicher diese Drei-Eltern-Reproduktionstechniken in der Petrischale wirklich sind. Auch darum dreht sich bisher ein Großteil der Debatte. Aber jedes Kind, angefangen vom ersten, das wegen eines Verbots durch den Kongress von amerikanischen Ärzten in Mexiko gezeugt und dieses Jahr zur Welt gekommen ist, bis zu den Retortenkindern, die anderswo in der technophilen östlichen Welt geboren werden, ist ein Experiment mit menschlichem Leben. Ein Experiment allerdings, das sich keineswegs von anderen medizinischen Eingriffen an schwerkranken Personen unterscheidet.

Das unvorhersehbare Los der ersten Drei-Eltern-Kinder ist der Preis für einen biomedizinischen Fortschritt, der sich an vielen Fronten gleichzeitig Bahn bricht und unser sittliches Verständnis immer wieder neu auf die Probe stellt. Man mag es als eine besondere Ironie sehen, dass der genetische Eingriff just in einer Zeit salonfähig wird, in der sich das tiefverwurzelte Bewusstsein für die Natürlichkeit überall äußert, angefangen bei der Ernährung bis hin zu einem bewussten ökologischen Verhalten.

Die Fortschrittsidee überwölbt in der Medizin längst alles andere. Ein Kind, das geheilt zur Welt kommt, lässt die Ambivalenz vergessen, mit der ebendieses Kind in der Petrischale gezeugt worden ist. Diese Einsicht drängt sich nach einem halben Jahrhundert Reproduktionsmedizin geradezu auf. Die Frage, die der Philosoph Hans Jonas in seiner Sorge um die zivilisatorische Verantwortung formulierte, ist dennoch unverändert aktuell: Was trägt die wissenschaftlich-technische Fortschrittsidee zur Versittlichung des Fortschritts selbst bei? Von einem „Aufstieg der Menschheit“ zu sprechen, wenn ein Kind mit dem Erbmaterial von drei Eltern geboren wird, würde jedenfalls auch einem fortschrittsaffinen Evolutionsbiologen nicht in den Sinn kommen.

Der Medizin insgesamt steht der Sinn nicht nach einer Verbesserung der Menschheit, nicht einmal der Biomedizin mit ihrem Triumphzug. Doch die Keimbahntherapie zeigt, dass das genetische Material eine besondere ethische Symbolik hat. Mit dem neuen genetischen Wissen wird der Imperativ des Heilens noch viel mehr als bisher zur Messlatte ethischen Handelns in der Medizin werden. Die „alten“ Werte und das traditionelle Verständnis von Gesundheit, Leid und Schicksal haben ausgedient.

Quelle:

www.faz.net

Fußnoten:

  1. ^ Joachim Müller-Jung (www.faz.net)
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  4. ^ "Meine Autoren" (www.faz.net)

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