"Der Lebensmittel-Einzelhandel steht zur Disposition"
Noch nie war die Auswahl an Lebensmitteln so groß wie heute. Für die Verbraucher bedeute das aber einen gewissen "Leidensdruck", sagte die Ernährungswissenschaftlerin Hannelore Daniel im DLF. Viele wollten sich gesund ernähren und gleichzeitig auf Umwelt und Tierwohl achten. Die Produktion und der Kauf von Lebensmitteln würden sich grundlegend wandeln.
- Bei vielen Verbrauchern hätten sich Gewohnheiten und Ansprüche beim Einkaufen geändert, sagt Ernährungswissenschaftlerin Hannelore Daniel. Das werde sich auf die Lebensmittelbranche spürbar auswirken. (imago/biky)
Susanne Kuhlmann: Die Zukunft der Ernährung steht im Mittelpunkt einer Veranstaltung in Berlin, die die Wochenzeitschrift "Die Zeit" zusammen mit der "Agrarzeitung" ausrichtet. Heute Nachmittag geht es um die Rolle der Ernährung in der Wohlstandsgesellschaft und das einführende Referat wird Professor Dr. Hannelore Daniel halten. Sie leitet den Lehrstuhl für Ernährungsphysiologie an der Technischen Universität München und ist jetzt am Telefon. Guten Tag, Frau Professor Daniel.
Hannelore Daniel: Guten Tag, Frau Kuhlmann.
Kuhlmann: Die Auswahl an Lebensmitteln ist bei uns ja schier grenzenlos und Essen ist quasi an jeder Straßenecke verfügbar. Man könnte sagen, wir lebten im Schlaraffenland. Macht uns das satt und glücklich?
"Aus dem Traum wird so langsam ein Albtraum"
Daniel: De facto leben wir wirklich im Schlaraffenland. Davon haben Menschen Millionen Jahre geträumt und für uns wird nun aus dem Traum so langsam ein Albtraum. Wie Sie sagen, ein enormes Warenangebot und gleichzeitig die Qual der Wahl, und das heißt für ganz viele Konsumenten ist Einkaufen, ist sich Ernähren mit einem enormen Leidensdruck verbunden.
Das Rechte zu tun, und zwar mit Blick auf das Tierwohl und auch die Umwelt, den Artenreichtum, und sich dann auch gesund ernähren, ist eine ganz, ganz schwierige Aufgabe und jeder Konsument hat bei mir das Mitgefühl. Ich teile ein bisschen von seinem Leid.
Umgekehrt müssen wir aber auch akzeptieren, dass es uns noch nie so gut gegangen ist und dass wir vieles vielleicht sogar etwas dekadent bewerten. Wir sollten uns freuen, dass wir ein so tolles Warenangebot haben, und wir sollten es gleichzeitig dem Konsumenten ermöglichen, seine Entscheidung auch einfacher treffen zu können. Das heißt für mich, dass zukünftig so etwas wie personalisierte, individualisierte Supermärkte vorstellbar sind.
Kuhlmann: Was soll man sich darunter vorstellen, unter personalisierten und individualisierten Supermärkten?
Daniel: Viele von uns haben sicher schon bei Amazon oder einem dieser großen Lieferdienste eine Bestellung vorgenommen und sie sehen ja dann beim nächsten Mal schon gleich bestimmte Angebote, die auf ihre Bedarfe zugeschnitten sind. Das könnte man sich ja sehr leicht auch für den Supermarkt der Zukunft im Bereich des E-Commerce, der Internet-Lieferung von Lebensmitteln vorstellen. Daran arbeiten auch solche großen Logistiker.
Verbraucher werden bestimmen, "nach welchen Kriterien die Lebensmittelauswahl getroffen werden soll"
Und das heißt, Sie geben dort ein, nach welchen Kriterien Ihre Lebensmittelauswahl getroffen werden soll. Sie sagen, ich möchte aus der Region versorgt werden, ich möchte, dass die Tiere entsprechend ihrem Wohl gehalten werden, ich möchte, dass es den geringsten Umweltabdruck hinterlässt, was ich dort kaufe, dass es die Portionen sind, wo ich wenig wegwerfen muss, ich bin vielleicht auch noch ein Diabetiker und brauche daher Produkte, die etwas weniger Zucker oder weniger Kalorien enthalten.
Und wenn Sie einmal definiert haben, was diese Warenangebote dann sein sollen, dann haben Sie zukünftig ein auf diese Ziele von Ihnen und Ihr Konsumverhalten ausgerichtetes Produktangebot, und ich glaube, das würde für viele Menschen etwas den Stress aus diesen Entscheidungsprozessen rausnehmen.
Kuhlmann: Was sagen denn die Lebensmittelhersteller zu solchen Ideen? Die wollen doch immer mal gerne was Neues verkaufen.
"Der Lebensmitteleinzelhandel wird in Zukunft nicht mehr diese Marktmacht besitzen"
Daniel: Es wird ja was Neues sein. Aber ich glaube, auch der Lebensmittel-Einzelhandel steht zur Disposition. Er wird in Zukunft nicht mehr diese Marktmacht besitzen. Der E-Commerce-Sektor wird auch in Deutschland stärker Fuß fassen. In England sind schon etwa 20 Prozent des Lebensmittelverkaufs internetbasiert. Bei uns ist das eigentlich vernachlässigbar wenig.
Von daher glaube ich, dass wir im Bereich von Lebensmittelproduktion, aber auch von Lebensmittelkauf und Vertrieb vor einer Wende stehen, und das wird nicht nur im Sektor des E-Commerce, des internetbasierten Lebensmittelhandels stattfinden, sondern auch mit neuen Produktionsverfahren, mit Fleisch-Ersatzprodukten und vielem, vielem mehr. Es wird eine noch aufregende Zeit werden für viele, die sich mit dem Feld Lebensmittel/Ernährung beschäftigen.
Kuhlmann: Das Leben im Schlaraffenland kann kompliziert sein, aber es lässt sich in Zukunft womöglich kanalisieren. Hannelore Daniel von der Technischen Universität München war das über die Ernährung in der Wohlstandsgesellschaft. Ihnen vielen Dank nach Berlin.
Daniel: Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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