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Die besten Konzerte fangen an, wie die guten Konzerte zu Ende gehen. So passiert es auch am Mittwochabend in Nyon, um halb zwölf auf der grossen Bühne des Paléo Festivals. Arcade Fire aus Montreal stimmen das Titelstück ihres neuen, noch nicht erschienenen Albums an, das zugegebenermassen schon seit Anfang Jahr als Single erschienen ist und einem nicht aus dem Kopf geht. «Everything Now» heisst es, wir wollen alles sofort, eine alte Forderung des Pop; Sehnsucht in der Strophe, Wunscherfüllung im Refrain. Die Menge wiegt sich im Takt und singt mit und jubelt am Schluss, als wäre es nicht der Anfang, und als wäre alles bestens, und das Leben bliebe immer jung.

So lässt sich dieses Konzert in einer ersten Lesung nacherzählen: Als triumphaler Auftritt einer Band auf dem Höhepunkt ihres Könnens. Sie seien sehr begeistert über ihr neues Album, «very excited», sagt Win Butler einmal, der Leadsänger und Bassist. So etwas könnte auch ein Schlagersänger behaupten. Aber genau so klingt das zur neunköpfigen Band aufgerüstete Quintett an diesem Konzert: Als gäbe es für die Musikerinnen und Musiker nichts Schöneres, als mit uns hier zu sein und das da zu machen. Jedes Stück an diesem anderthalbstündigen Auftritt klingt wie ein Hit, das von den Musikern, alle von ihnen Multiinstrumentalisten, mit Präzision, Hingabe und grosser Geschlossenheit aufgeführt wird. Diese kommt so beiläufig daher, dass selbst die mehrfachen Rhythmuswechsel wie bei «Hear Comes the Nighttime» gar nicht auffallen. Dass die neuen Stücke zu den besten des Abends gehören, bestätigt den Stolz der Musiker über sie.

Reverenz an David Bowie

Die Qualität einer Band, notierte der «Guardian» über einen kürzlichen Auftritt von Arcade Fire in Manchester, zeige sich in der Kreativität, mit der sie ihre Einflüsse weitertreibe. Die Qualität dieser Band zeigt sich auch daran, wie sie Einflüsse ineinanderlaufenlässt, die man für inkompatibel gehalten hätte. Man hört den Kanadiern die Fröhlichkeit von Abba an und die Euphorie der schwarzen Disco-Musik, aber auch den maschinell rüttelnden Funk des frühen Prince, man hört die Talking Heads heraus und New Order und, in der hohen Stimme des Sängers, die Paranoia von Neil Young, dem Mitkanadier.

Vor allem hört man, was der Sänger als Einleitung zum Stück «The Suburbs» sagt, nämlich das Offensichtliche: «Dieser Song ist für David Bowie, wir vermissen ihn sehr.» Einer von Bowies letzten Bühnenauftritten fand 2005 in New York mit Arcade Fire statt. So passt alles zusammen. Die brillanten Epigonen reformulieren die Geschichte ihrer Musik und laden sie dabei mit neuer Energie auf. Wie genau sie um ihren späten Platz in der Entwicklung wissen, deutet der Titel «Reflektor» an. So heisst das vorletzte Album der Band, ein Wortspiel: Der Reflektor spiegelt, was er sieht und denkt darüber nach. In Nyon gerät eine basslastige, von Echoschreien neurotisierte Version des Stückes zum grössten Moment des Abends.

«The Suburbs» (Tribut an David Bowie) von Arcade Fire. Quelle: Youtube/ArcadeFireVEVO

So extravertiert kann man dieses Konzert verstehen, aber es geht auch anders. Wer über die Melodien und Refrains der Band hinaushört, merkt bald, dass die gute Laune ein Ablenkungsmanöver ist, hinter dem Verstörung herrscht. Der rätselhafte Satz von Federico Fellini fällt einem ein, während man, eingekeilt in der Menge, auf die flackernde Bühne schaut und von der Musik überwältigt wird. Hinter den Bond-Filmen, sagte der Regisseur einmal, höre er die Totenkäfer rascheln. So funktionieren Arcade Fire mit ihrer Kombination aus Text und Musik.

«Reflektor» zum Beispiel klingt so heiter, dabei erweist es sich als Stück über das Leben ohne Liebe: «Alone in a darkness, a darkness of light», heisst es in der ersten Strophe, die zweite spielt – auf französisch – auf die Zeit zwischen Nacht und Dämmerung an, Leben und Tod: «Entre la nuit, la nuit et l'aurore / Entre les royaumes, des vivants et des morts.» «Funeral», nannten die Musiker ihr erstes Album von 2004, weil so viele aus ihren Familien während den Aufnahmen verstorben waren.

«Reflektor» von Arcade Fire. Quelle: Youtube/ArcadeFireVEVO

Mädchen, die sich schneiden

Und da ist noch «Creature Comfort» aus dem neuen Album, in Nyon gegen Konzertende als Discostück hingestampft. Dabei handelt es von Mädchen, die sich schneiden und an Selbstmord denken. «Sie träumt dauernd vom Sterben / Sie war so nahe dran / Füllte die Badewanne / Und legte unserer erste Platte auf.»

«Creature Comfort» von Arcade Fire. Quelle: Youtube/AcradeFireVEVO

Sogar «Everything Now», das Titelstück des neuen Albums, täuscht mit seiner Schlagermelodie über die Boshaftigkeit des Textes hinweg. «Everytime you smile it’s a fake», heisst es darin zum Beispiel, und es fällt schwer, nicht an den amerikanischen Präsidenten zu denken, während dessen Kampagne das Stück entstanden ist.

«Everything Now» von Arcade Fire. Quelle: Youtube/ArcadeFireVEVO

Mit den Zeilen «Every inch of sky's got a star / Every inch of skin's got a scar» aus demselben Stück hat das Konzert übrigens angefangen: Der Himmel ist voller Sterne, die Haut voller Narben. Später im Konzert fallen einem die Zeilen wieder ein, als die Lichtshow über der Band eine kalt glitzernde Discokugel andeutet, die in einem Sternenhimmel aufgeht. Egal wie schön man es zusammen hat, heisst das wohl, am Ende kommt die Einsamkeit, kalt wie das All. (Tages-Anzeiger)

Erstellt: 20.07.2017, 08:59 Uhr

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