Können Apps gegen Tinnitus helfen?

© Colourbox.com Mal ist es ein Dauerton, mal ein Rauschen. Für den Betroffenen kann es die Hölle sein.

Ruhe, diese Wohltat kennt Karin Walter schon seit zweieinhalb Jahren nicht mehr. Seit dem Tag, als nach dem Aufwachen die plötzliche Stille auf dem rechten Ohr von einem lauten Piepsen übertönt wurde. „Seitdem sage ich jeden Morgen: Du bist wieder da, und ich sage auch jeden Abend gute Nacht zu meinem Tinnitus“, berichtet die 55-Jährige aus Bochum. Aus dem Piepsen ist mittlerweile ein Rauschen geworden, „als ob ständig die Lüftung eines Druckers dröhnt“.

In ihrer Verzweiflung ist Karin Walter (Name geändert) von Pontius zu Pilatus gelaufen. Sie hat Kortisontabletten und Infusionen bekommen, Akupunktur und Homöopathie ausprobiert. Auch der Wellnessurlaub mit Craniosakral-Therapie und Massagen hat nichts gebracht, genauso wenig wie die teure Beruhigungs-CD mit „Kling-Klong-Musik“, Schmerzpflaster oder die Aufbissschiene gegen Zähneknirschen. „Irgendwann greift man nach jedem Strohhalm“, erzählt die Bürokauffrau frustriert. Ein paar tausend Euro sei sie schon losgeworden.

Die App soll den Therapeuten ersetzen

Zuletzt hatte ihr die Krankenkasse etwas ganz Neues und Modernes empfohlen: eine Smartphone-App namens „Tinnitracks“. Ein bis zwei Stunden Musik pro Tag, individuell für sie zurechtgeschnitten, sollten ihr das Ohrgeräusch gewissermaßen abtrainieren. Karin Walter probierte auch diesen Weg aus. Die Therapie, die sie sich eigentlich gewünscht hatte, wollte die Techniker nicht zahlen.

„Die App ersetzt den Therapeuten“, hat die TK ihren Versicherten einmal verkündet. Erfahrene Ärzte wie Gerhard Hesse fühlten sich dadurch regelrecht auf den Schlips getreten. „Ich halte den Ansatz für völligen Unsinn“, schimpft der Leiter der Tinnitus-Klinik im hessischen Bad Arolsen. „So simpel funktioniert unser Gehör nicht.“

Hesse sollte wissen, wovon er redet, er hat an der Universitätsklinik Hannover selbst mal ein ganz ähnliches Verfahren ausprobiert. „Tinnitracks“ schneidet in die Lieblingssongs der Patienten eine Lücke, die der Tonhöhe des wahrgenommenen Tinnitusgeräuschs exakt entsprechen soll. Dahinter steckt folgende Annahme: Das Gehirn verteilt eintreffende Hörsignale auf einzelne Nervenzellgruppen, jede davon ist auf die Weiterverarbeitung einer bestimmten Frequenz spezialisiert. Wird wie bei einem Tinnituspatienten immer derselbe Ton gemeldet, ist die zuständige Einheit im Dauereinsatz. Die Tinnitracks-Musik verschaffe ihr nun eine willkommene Pause. Wenn alle anderen Nervenzellgruppen in der Umgebung angeregt würden, nur die dauergestressten Tinnituszellen nicht, würden Letztere sich allmählich beruhigen. Das jedenfalls behauptet die Firma Sonormed, die die App vertreibt. Sie stützt sich dabei auf Christo Pantev vom Institut für Biomagnetismus und Biosignalanalyse der Universität Münster, der das Verfahren erfunden hat. Die Techniker Krankenkasse preist es auf ihrer Website so an: „Macht es in ihrem Ohr manchmal piep? Dagegen helfen wir mit Pop!“

Je genauer man hinhört, desto lauter ist das Geräusch

Gerhard Hesse selbst verfolgte Mitte der achtziger Jahre ähnliche Intentionen. Er verstümmelte damals Mozart- und Vivaldi-Stücke, denen er größere Frequenzlöcher verpasste. „Wir haben das auch in Studien untersucht“, sagt der HNO-Arzt, „aber es kam nichts dabei herum.“ Die wissenschaftliche Ausbeute der Tinnitracks-Entwickler ist kaum besser. Die Firma Sonormed und die Techniker verweisen zwar auf Anfrage auf insgesamt 17 Fachartikel und Untersuchungen, welche die Wirksamkeit der Therapie belegen sollen. Nimmt man sie allerdings genauer unter die Lupe, relativiert sich die Zahl schnell. Meist waren die Teilnehmerzahlen zu klein, die Untersuchungen zu kurz oder die Messwerte zu großzügig interpretierbar, um daraus irgendetwas Aussagefähiges ablesen zu können. Sonormed beruft sich im Besonderen auf eine Studie, die der Elektrotechniker Christo Pantev 2010 in PNAS veröffentlicht hat. Darin stellte er sein „Tailored Notched Music Treatment“ vor und berichtete von acht Patienten, die ihren Tinnitus nach zwölf Monaten Training leiser wahrgenommen hätten als scheinbehandelte Probanden.

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Quelle:

www.faz.net

Fußnoten:

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